Die kleine Baumgeschichte
Warum die Eiche das ganze Jahr über Blätter trägt
Diese Geschichte trug sich zur Zeit der Christianisierung in unserer Gegend zu.
Ein germanischer Bauer verliebte sich in das schönste Mädchen des Dorfes und wollte sie gerne heiraten. Leider fehlte ihm für dieses Vorhaben das nötige Geld, um die Hochzeit zu bezahlen. Der Bauer war daher sehr deprimiert. Um sein Gemüt etwas zu erleichtern, ging er in den Wald zu einer alten Eiche und klagte ihr sein Leid, was keinesfalls ungewöhnlich war, denn die Germanen verehrten die Bäume sehr und hatten eine ganz besondere Beziehung zu ihnen.
Die Eiche hörte dem Bauern schweigend zu. Sein Klagen hörte auch der Teufel und trat an den Bauern heran. "Jammere nicht", sprach der Teufel ihn an, "wenn es nur um das Geld geht, so kann ich dir sicher helfen. Wenn ich dir helfen soll, so kostet es dich nur eine winzige Kleinigkeit: Versprich mir deine Seele und gib sie mir im Herbst, wenn in diesem Wald keine Blätter mehr an den Bäumen hängen, hier unter dieser Eiche."
Der arme Mann schlug in die ausgestreckte Hand des Teufels ein und der Pakt war geschlossen. Der Bauer war über die angebotene Hilfe des Fremden so froh, dass er den zweiten Teil des Paktes überhaupt nicht richtig beachtete. Er hatte ja auch keine Ahnung von den Machenschaften des Teufels, denn bis dahin kannte er ihn noch nicht.
Die alte Eiche, die Mitleid mit dem Bauern hatte, beobachtete das Treiben des nach Schwefel stinkenden, hinkenden Wesens sehr misstrauisch und murmelte raschelnd mit ihren Blättern: " Na warte, du komischer Kauz, dir werde ich die Suppe schon versalzen."
Aber der Bauer verließ erleichtert und fast schon glücklich den Wald. Und wirklich, nach einigen Tagen verstarb der Onkel des jungen Mannes und vererbte ihm den Hof, einige Tiere und etwas Geld. Das reichte aus, um die Geliebte zu heiraten und eine glückliche Ehe zu führen.
Die Wochen und Monate vergingen und der Herbst färbte das Laub. Die ersten Nachtfröste kamen und holten die Blätter von den Bäumen. Das bemerkte der Teufel und kam zur alten Eiche, doch der Bauer war nicht da. Wütend ging er zu ihm, zerrte ihn aus dem Haus zur Eiche und verlangte die Einlösung des Paktes. Der Bauer war völlig verstört, erinnerte sich dann aber an den zweiten Teil des Paktes. Er sah sich Hilfe suchend um und bemerkte, dass das vertrocknete Laub noch an der Eiche hing.
Er zeigte dies dem Teufel und sagte:" Wenn der Herbst gekommen ist und hier im Wald keine Blätter mehr an den Bäumen hängen, soll ich dir meine Seele geben. Die Eiche trägt aber noch ihr Laub." Wutschnaubend verließ der Teufel den Bauern und schickte den Herbststurm zur Eiche. Doch ihre Blätter blieben am Baum. Jeden Monat kam der Teufel und sah zur Eiche empor. Die Eiche trennte sich aber trotz klirrendem Frost, Sturm und Schnee nicht von ihren vertrockneten Blättern.
Im April kam der Teufel wieder in den Wald und sah, wie durch den zarten warmen Frühlingswind die schon stark zerzausten, trockenen Eichenblätter endlich zur Erde fielen. Als das letzte Blatt am Boden lag, kam der Teufel triumphierend zum Bauern, packte ihn und holte ihn zur Eiche. "Nun musst du den Pakt einlösen!" forderte der Teufel.
Der Bauer sah sich wieder Hilfe suchend im Wald um und tatsächlich entdeckte er, dass bereits zarte Blätter an den Birken und Pappeln, ja selbst an der Eiche zu sehen waren. Freudig strahlend berief sich der Bauer erneut auf den Vertrag und sprach zum Teufel: " Wenn hier im Wald keine Blätter mehr an den Bäumen hängen, dann werde ich dir wie versprochen meine Seele geben. Aber sieh dich um!" Nun bemerkte auch der Teufel das zarte Grün an den Bäumen. Zornig kletterte er die Eiche hoch und hieb mit seinen Krallen auf die jungen Eichenblättchen ein.
Die Spuren seiner Tat sind noch heute an den Blättern und an der Rinde der Eichen zu sehen.
Und damit sich der Teufel auch von keinem anderen die Seele holen kann, behalten die Eichen und auch die jungen Buchen ihre trockenen Blätter den ganzen Winter über, bis das neue Grün im Frühling den Wald belebt.
„Warum die Eiche das ganze Jahr über Blätter trägt“ aus: Antje und Burkhard Neumann, Waldfühlungen, ISBN 978-3-931902-42-1, 11. Auflage 2010, Jahrgang 1999, Ökotopia Verlag, Münster Tel. 0251-481980, E-Mail: info@oekotopia-verlag.de, Internet: www.oekotopia-verlag.de